Das Schweizerische Bundesgericht und die Gesetzgebung haben in jüngster Zeit die bestehende strenge Praxis in verschiedenen Bereichen des Strassenverkehrsrechts aufgeweicht.
So hat
das Bundesgericht festgehalten, dass eine Person, welche während der Fahrt kurz
auf ihr Mobiltelefon schaut, keine Widerhandlungen gegen das
Strassenverkehrsgesetz begeht und einen entsprechenden letztinstanzlichen
kantonalen Entscheid aufgehoben. Weitergehend wurde gestützt auf die neu
geltende Gesetzgebung entschieden, dass das Rechtsvorbeifahren auf Schweizer
Autobahnen grundsätzlich erlaubt ist, ein Rechtsüberholen aber weiterhin
verboten bleibt.
Mobiltelefon
am Steuer (BGer 6B_27/2023 vom 5. Mai
2023):
Eine Fahrzeuglenkerin wurde wegen einer einfachen Verkehrsregelwiderhandlung im Sinne von Art. 90 Abs. 1 SVG verurteilt, weil sie während der Fahrt ihr Mobiltelefon in der rechten Hand neben dem Lenkrad gehalten und während ein bis zwei Sekunden mit leicht gesenktem Kopf auf das Telefon geblickt hatte, um dieses zu entsperren (dies ohne Schwenker sowie ohne Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer).
Das Bundesgericht hob dieses Urteil auf und hielt fest, dass die betroffene Frau ihre linke Hand am Steuerrad hatte und mit der anderen Hand das Mobiltelefon hielt.Weiter wurde Folgendes ausgeführt (BGer 6B_27/2023 vom 5. Mai 2023, E. 1.5):
«Es ist daher im konkreten Fall nicht ersichtlich, inwiefern die Beschwerdeführerin durch einen gezielten kurzen Blick von ein bis zwei Sekunden auf das sich in Fahrtrichtung vor ihr befindliche Mobiltelefon, zum Entsperren desselben, die Bedienung des Fahrzeugs erschwert oder behindert haben sollte, zumal ein wiederholter kurzer Blick in den inneren und äusseren Rückspiegel zur sicheren Lenkung des Fahrzeugs jedenfalls in Innenstädten praktisch an jeder Kreuzung und zusätzlich überall bei Fussgänger- und Veloverkehr erforderlich sowie unumgänglich ist. Auch ein derart kurzer Blick auf die sich am Armaturenbrett befindliche Uhr, bei dem die Augen wie beim Blick in die Spiegel nicht mehr vollumfänglich auf das sich vor dem Fahrzeug auf der gesamten Strassenbreite abspielende Geschehen gerichtet sind, erfüllt den Tatbestand keineswegs zwangsläufig (...). Dies muss gleichermassen bei einem Blick von ein bis zwei Sekunden auf das neben dem Lenkrad gehaltene Mobiltelefon gelten. Erlaubt es, wie vorliegend, die Verkehrssituation, einen kurzen Augenblick auf das Mobiltelefon zu blicken, ohne dass die erforderliche Aufmerksamkeit des Lenkers vom Verkehrsgeschehen abgelenkt ist, liegt ausserdem auch keine abstrakte Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer vor und ist die Lenkung sowie Bedienung des Fahrzeugs durch eine Hand uneingeschränkt gewährleistet, stellt dies keine Verrichtung dar, welche die Bedienung des Fahrzeugs behindert oder erschwert».[1]
Weiterhin verboten und gemäss der nach wie vor geltenden bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu sanktionieren, ist das tatsächliche Benutzen des Mobiltelefons durch Schreiben einer SMS[2], Benutzen eines Navigationsgerät (wenn dies länger als einige Sekunden dauert)[3], Bedienen eines Mobiltelefons mit der rechten Hand (wobei sich die linke Hand im Bereich des Kopfes befindet)[4] sowie Telefonieren während der Fahrt ohne Freisprechanlage[5].
Rechtsüberholen auf der Autobahn (BGer 1C_104/2023 vom 10. Juli 2023):
Im vorliegenden Entscheid hat das Bundesgericht klargestellt, dass lediglich das Rechtsvorbeifahren auf der Autobahn grundsätzlich gestattet ist. Ein Rechtsüberholen bleibt jedoch nach wie vor verboten.
Der betroffene Autofahrer fuhr auf der linken Spur und geriet hinter ein anderes Fahrzeug, welches aufgrund des Verkehrs bremste. Der Autofahrer wechselte auf die mittlere Fahrspur hinter zwei normal fahrende Fahrzeuge. Ohne den Fahrtrichtungsanzeiger einzuschalten, wechselte er sodann auf die rechte Fahrspur, beschleunigte und überholte die beiden Fahrzeuge, den BMW und das vorausfahrende Fahrzeug, wechselte wieder auf die linke Fahrspur und setzte seine Fahrt fort.
Diesbezüglich hielt das Bundesgericht fest, dass es sich hierbei um ein Rechtsüberholen gehandelt hat. Ein derartiges Verhalten schafft ein erhöhtes Unfallrisiko und stellt somit eine Widerhandlung gegen das SVG dar (BGer 1C_104/2023 vom 10. Juli 2023, E. 4.3.3).
Erlaubt ist hingegen das Rechtsvorbeifahren (ohne Spurwechsel) im parallelen Kolonnenverkehr. Diesbezüglich stellte das Bundesgericht Folgendes fest (BGE 142 IV 93, E. 4.2.1):
«Paralleler Kolonnenverkehr setzt nicht voraus, dass sich die Fahrzeugkolonnen auf allen Fahrspuren permanent mit identischer Geschwindigkeit unter Einhaltung gleichgrosser Abstände fortbewegen. Dies ist bereits faktisch unmöglich. Ist die Verkehrsdichte auf der linken (und mittleren) Überholspur derart stark, dass sich die Fahrzeuge auf allen Spuren mit praktisch gleicher Geschwindigkeit fortbewegen, muss auf Geschwindigkeitsreduzierungen der Fahrzeuge auf der (linken oder mittleren) Überholspur, die häufig durch zu dichtes Auffahren und anschliessendes Abbremsen entstehen (sog. Handorgeleffekt), nicht mit eigenem Abbremsen reagiert werden, sondern die Fahrt kann bei gleichbleibender Geschwindigkeit unter Beachtung der erforderlichen Sorgfalt fortgesetzt werden.»
Der Unterschied zwischen verbotenem Rechtsüberholen und erlaubtem Rechtsvorbeifahren wird nunmehr wie folgt definiert: «Wenn sich auf dem linken (oder bei dreispurigen Autobahnen auf dem linken und/oder mittleren) Fahrstreifen eine Kolonne gebildet hat, dürfen die Verkehrsteilnehmenden auf der rechten Spur neu mit der nötigen Vorsicht vorbeifahren, auch wenn sich rechts noch keine Kolonne gebildet hat. Das Rechtsüberholen (Ausschwenken auf den rechten Fahrstreifen und Wiedereinschwenken nach links) ist hingegen weiterhin verboten und wird mit einer Ordnungsbusse geahndet»[6].
Demnach gilt auf den Autobahnen mithin nach wie vor das Rechtsfahrgebot. Lediglich das unter Beachtung der erforderlichen Sorgfalt durchgeführte Rechtsvorbeifahren ist erlaubt.
[1] Ebenfalls erlaubt ist es, wenn ein Fahrzeugführer sein Mobiltelefon auf der Autobahn bei einer Geschwindigkeit von 80 bis 100 km/h im Kurvenbereich bei regem Verkehrsaufkommen ununterbrochen während 15 Sekunden in der linken Hand hält, ohne dabei jedoch den Blick von der Strasse abzuwenden und ohne zu telefonieren oder andere Manipulationen am Mobiltelefon vorzunehmen (vgl. Urteile 1C_470/2020 vom 8. Februar 2021 E. 4.2; 6B_1183/2014 vom 27. Oktober 2015 E. 1.5 f.).
[2] Urteil 6B_666/2009 vom 24. September 2009 E. 1.3 f.
[3] Urteil 1C_183/2016 vom 22. September 2016 E. 2.6.
[4] Urteil 6B_894/2016 vom 14. März 2017 E. 3.3.
[5] Urteil 1C_470/2020 vom 8. Februar 2021 E. 4.2.
[6] Vgl. Medienmitteilung des Bundesrates: https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-81639.html